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Die Inschriften des Bundeslandes Tirol

Politischer Bezirk Imst

11 Stams, Stiftssammlungen 1388?

Tafelbild Marienkrönung („Grussittafel“) mit Tituli und Stifter- bzw. Künstlerinschrift, Öltempera auf Holz, in der Schausammlung, an der Südwand des Schauraums, ursprünglich Mitteltafel des Stamser Hochaltars (vgl. ausführlich unten Kommentar). Die Tafel ist oben flach spitzbogig abgeschlossen. Der nur am Oberrand erhaltene breite Rahmen mit aufgemaltem Distelornament läuft kielbogig in einen abgeschnittenen Fialenansatz aus und zeigt links ein Medaillon mit der Halbfigur des Propheten Jesaja, der vor sich ein Spruchband mit schwarz auf weiß zwischen feinen Begrenzungslinien aufgemalter Inschrift trägt (I), rechts ein gleichartiges Medaillon mit dem Propheten Jeremias (II), und im Scheitelpunkt das Brustbild Gottvaters. Im Zentrum ist eine zweifigurige Marienkrönung dargestellt. Die Szene platziert die handelnden Personen auf einer kapellenförmig raumhaltigen Thronbank mit fensterartig durchbrochenen Maßwerkwangen, flankiert links und rechts von musizierenden Engeln, überwiegend in Paaren gruppiert, wobei zu beiden Seiten die obersten drei Engel je ein Spruchband mit einer kurzen schwarz auf weiß aufgemalten Inschrift tragen (links III, rechts IV). Ganz unten, zwischen den Hll. Magdalena, Agnes, Johannes dem Evangelisten links und Johannes dem Täufer, Benedikt und Bernhard rechts, die kleine in Anbetung kniende Figur eines Abtes in weißem Habit in Dreiviertelprofil von hinten, das Pedum zwischen den gefalteten Händen. Über der unteren Reihe der Heiligen je zwei weitere Heilige, nach oben zu den Engelschören aufschließend: links Stephanus und Laurentius, rechts Nikolaus und Augustinus. Im Kronreif der Hl. Agnes eine weitere Inschrift, Perlen- bzw. Edelsteinbesatz imitierend, aufgemalt (V). Auf der Rückseite soll sich nach Lebersorgs Chronik eine heute verlorene weitere Inschrift auf dem Altar befunden haben1) (VI†). Nach älteren Restaurierungen um 1885 und während des Zweiten Weltkriegs2) zuletzt 1995 im Bundesdenkmalamt in Wien gereinigt und konserviert. An beiden Seiten des Rahmens haben sich Scharniere der verlorenen Seitenflügel erhalten.


H. 307 cm (ohne Rahmen 248 cm), B. 180 cm (ohne Rahmen 164 cm), Bu. 2 cm (I, II), 1,5 cm (III, IV), 0,4 cm (V). – Gotische Minuskel mit Versalien.


Text von VI† nach Lebersorg, Chronik 95 (Haidacher 178).


Textedition
			

I. II. Jeremias III. Reginac) celi letare IV. Qviac) qvem mervisti por(tare)d) V. i//[..]e) // a//gne//sf) // tu ar//xg) // sih) VI†. Anno Domini MCCCLXXXVIi) excisa est tabula ista per manus fratris Heinrici de Uberlingen dicti Grossit, abbatis in Stambs, et depicta est completa anno Domini MCCCLVIIIj) in mense Augusti

Anmerkungen
a) Beginn des Spruchbands im Ausmaß von etwa vier Zeichen leer; als Trennzeichen zuerst ein Quadrangel mit oben und unten ansetzenden Haarzierstrichen, dann ein einfaches Quadrangel.
b) hinter dem h Spruchband eingerollt.
c) Versal in roter Farbe aufgemalt.
d) hinter por Spruchband eingerollt.
e) i in einem Edelsteinmedaillon; die beiden folgenden Zeichen durch starke Flecken nicht sicher lesbar.
f) a und s in einem Edelsteinmedaillon.
g) x in einem Edelsteinmedaillon.
h) die Is. wohl als auf dem nicht mehr sichtbaren Teil des Kronreifs weiterlaufend gedacht, erg. vielleicht si[s].
i) Durch Tilgung aus MCCCLXXVIII ausgebessert; vgl. die entsprechende Anm. bei Haidacher 178.
j) sic! wohl verschrieben für MCCCLXXXVIII.

Der Prophet Jesaja (I).
Jeremias (II).
Freu Dich, Himmelskönigin! (III).
Denn (er), den Du zu tragen würdig warst (IV).
(...) Agnes, du (...) Burg (...) (V).
Im Jahr des Herrn 1386 wurde diese Tafel durch die Hand Heinrichs von Überlingen, genannt Grussit, des Abts von Stams, geschaffen, und wurde zu Ende bemalt im Jahr des Herrn 1388 im Monat August (VI).

Regina coeli (österliche Marienantiphon) (III und IV).


Kommentar

Inschrift III und IV verweisen auf die Auferstehung Christi, da es sich um den Text einer österlichen Marienantiphon handelt; dort heißt es „Freu Dich, Himmelskönigin, Halleluja! Denn (er), den Du zu tragen würdig warst, Halleluja! Er ist auferstanden, wie er gesagt hat“3). Auf den Bezug zwischen Christus und Maria in der vorliegenden Marienkrönung verweist insbesondere auch der Prophet Jesaja, der aufgrund seiner messianischen Prophezeiungen häufig in Verbindung zu Maria dargestellt wird und der hier, durchaus nicht ungewöhnlich, zusammen mit dem Propheten Jeremias auftritt4). Ein Beispiel für einen Flügelaltar mit einer dezidiert christologisch-marianischen Ikonographie, die dieselbe Antiphon wie die Stamser „Grussittafel“ als Inschrift aufweist, findet sich im Schatz der Antoniuskirche am Westend in Frankfurt am Main. Dieser Hausaltar entstand allerdings erst 1574/75, also deutlich später als die Stamser Marienkrönung5).

Dass das gegenständliche Tafelbild ursprünglich der Mittelteil des alten Stamser Hochaltars war, legen neben den beachtlichen Abmessungen des Objekts, die die Aufstellung auf einem Seitenaltar unwahrscheinlich machen, und den noch erhaltenen Scharnieren der Seitenflügel an der Seite des Rahmens vor allem der zentrale Bildvorwurf und die übrigen Heiligenfiguren – die Stiftskirche trägt das Patrozinium Mariä Himmelfahrt und Hl. Johannes der Täufer – nahe. In der Stamser Haustradition sah man in Abt Heinrich III. Grussit (1369, resigniert 1387) den Maler dieses qualitätvollen Tafelbildes; Lebersorg nannte ihn einen „tam in pingendo quam sculpendo egregius artifex“, der nicht zuletzt auch ein – wohl mit dem vorliegenden Objekt zu identifizierendes – hervorragendes Hochaltarbild geschaffen habe6). Ausgangspunkt für die Einschätzung dieses Abtes als Künstler und Schöpfer des Hochaltars war die heute verlorene Inschrift VI†, die sich noch zu Lebersorgs Zeit auf der Rückseite des Altars befunden haben soll7). Noch die Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts nahm diese verlorene Inschrift als Beleg für Grussits Autorschaft teilweise durchaus ernst8). Andere ältere und vor allem jüngere Arbeiten stießen sich an der inschriftlich tradierten expliziten Zuschreibung des Altars auch in künstlerischer Hinsicht (excisa ... per manus) an Heinrich Grussit. Irma Trattner vermutet neuerdings wie schon Hans Semper im aus Mais (heute Stadtteil von Meran) stammenden Maler Konrad im Tiergarten den Urheber der Stamser Tafel und stützt diese Annahme mit einem Eintrag im Stamser Nekrolog zum 10. August: „Anniversarium magistri Conradi pictoris de Horto Ferarum [= Tiergarten] in Mays, qui tabulam ad publicum altare depinxit manibus propriis ob remedium anime sue et Iuliane uxoris sue ac omnium progenitorum eorundem“9). Gerade dieser Nekrologeintrag spricht jedoch massiv gegen einen Bezug auf die „Grussittafel“. Explizit ist hier von einem „publicum altare“ die Rede, der (wohl als Kreuzaltar) nur im den Laien zugänglichen Kirchenschiff, nicht aber im Chor zu suchen sein kann. Möglicherweise hatte es sich überdies bei diesem Altarretabel – was die Formulierung des Nekrologs andeutet – um eine Seelgerätstiftung des Konrad im Tiergarten und seiner Frau Juliana gehandelt, was wiederum nicht mit der Stifterdarstellung der „Grussittafel“ – ein Zisterzienserabt – vereinbar ist. Während ältere Literatur in diesem Stifter naheliegenderweise eben jenen als Maler des Hochaltars überlieferten Abt Heinrich III. Grussit von Stams vermutete10), sahen sich die für Konrad im Tiergarten eintretenden Autoren genötigt, einen späteren Stamser Abt namhaft zu machen. Caramelle etwa sieht in dem bildlich dargestellten Abt am ehesten Johannes I. Blätterle, einen aus Isny stammenden Abt von Stams (reg. 1399–1420)11).

Für eine hypothetische Zuweisung der Tafel an Konrad im Tiergarten spräche zwar die Qualität der Tafel, die an oberitalienische Arbeiten aus den Künstlerwerkstätten Paduas und Venedigs erinnert. So bietet sich etwa der Vergleich mit einer Marienkrönung des Meisters Giusto de Menabuoi an12). Eine stilistische Annäherung an mutmaßliche Vorbilder des aus der Bodenseegegend (Überlingen) stammenden Abtes Heinrich muss dagegen scheitern. Dennoch dürfte angesichts der oben ausgebreiteten Argumente an der überlieferten Autorschaft – oder doch zumindest Stiftung – Heinrich Grussits festzuhalten sein. Ist aus kunsthistorischer Sicht gegen eine Datierung der Tafel in die letzten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts nichts einzuwenden, gilt dies auch für den inschriftlichen Befund der relativ breiten und locker spationierten sowie mit wenigen, Gotischer Majuskel entnommenen Versalien versehenen Gotischen Minuskel.

1) „Altare videlicet maius, quod hactenus in summo extitit, ut litterae illius cum eiusdem figura, quae a tergo huius altaris adpictae sunt“; Lebersorg, Chronik 95 (Haidacher 178).
2) Vgl. Trapp, Kunstdenkmäler 147f. und Semper, Altartafel 375.
3) Der lateinische Text der Antiphon lautet: „Regina coeli laetare, alleluja, quia quem meruisti portare, alleluja, resurrexit sicut dixit, alleluja, ora pro nobis deum, alleluja“.
4) Vgl. Holländer, Isaias 356f.
5) Hausaltärchen des Johannes Büdinger (Budlinger), um 1574/75, Kirchenschatz von St. Antonius (Liebfrauen) in Frankfurt am Main.
6) Lebersorg, Chronik 77 und 95f. (Haidacher 146f. und 176–179). Vgl. Gay, Historia III, cap. 9. Dieser alten Tradition folgte auch die ältere Literatur, etwa Atz, Kunstgeschichte 525 und 676–678; Tinkhauser/Rapp, Beschreibung 3, 293f.
7) Vgl. das Zitat in Anm. 1. Eine Anspielung auf diese Is. findet sich auch etwas früher in Lebersorgs Chronik: „Quod vero hoc anno obierit [gemeint ist Abt Heinrich Grussit], colligitur ex tabula antiqua summi altaris, in qua ipsemet scripsit se eam complevisse anno 1388 in mense Augusti“; Lebersorg, Chronik 95 (Haidacher 176).
8) Necrologium Stamsense 54. Vgl. Schmidt, Malerei 478. Caramelle, Gotik 42 zitiert eine gleichlautende Passage aus diesem Text, gibt aber an, es handle sich um einen Auszug von Lebersorgs Chronik; ein entsprechender Eintrag konnte in Lebersorgs Chronik jedoch nicht gefunden werden.
9) So etwa: Semper, Altartafel, referiert auch bei Andergassen, Forma 52, der jedoch die Tafel des Konrad im Tiergarten für verloren hält.
10) Ammann, Kat.-Nr. 22.23, 553 und Andergassen, Forma 49 („il ritratto dell’abate Grussit“) und 52. Ihm folgt auch Trattner, Kat. Nr. 291, 549. Zu Heinrich Grussit, der am 22. Februar 1389 verstarb, vgl. Album Stamsense 14.
11) Caramelle, Gotik 39. Ähnlich bereits zuvor der Autor des Kataloges der Ausstellung Gotik in Tirol von 1950, der in dem Abt entweder Johann I. Blätterle oder Johann II. Peterer erkennen möchte und dies aus einer späteren Datierung (um 1410/20) folgert; Tiroler Landesmuseum, Gotik in Tirol 21. Unverständlich ist die Position Trattners, die zwar Konrad vom Tiergarten als Maler reklamiert und für eine Entstehungszeit „um 1390–1400“ eintritt, in der Stifterfigur jedoch weiterhin „wohl Abt Heinrich Grussit“ erblickt; Trattner, Kat. Nr. 291, 549.
12) Giusto de Menabuoi, Marienkrönung (Mitteltafel eines Hausaltares) von 1367, National Gallery London. Vgl. Tiroler Landesmuseum, Gotik in Tirol 21; Egg, Kunst in Tirol (1972) 42f; Andergassen, Forma 52; Brucher, Gotik 32; Schmidt, Malerei 478 und Trattner, Kat. Nr. 291, 549.
Literatur

Lebersorg, Chronik 77 und 95f. (Haidacher 146f. und 176–179). – Gay, Historia III, cap. 9. – Necrologium Stamsense 54. – Semper, Altartafel. – Atz, Kunstgeschichte 525 und 676–678. – Trapp, Kunstdenkmäler 147f. – Tiroler Landesmuseum, Gotik in Tirol 21. – Egg, Kunst in Tirol (1972) 42f. – Caramelle, Gotik 39–42. – Dehio Tirol 755. – Ammann, Kat.-Nr. 22.23, 553. – Andergassen, Forma 49 und 52. – Brucher, Gotik 32. – Schmidt, Malerei 478. – Trattner, Kat. Nr. 291, 549 (Farbtafel auf 179). – Schmitz-Esser, Inschriften (2003) 101.



Werner Köfler und Romedio Schmitz-Esser

Zitierregel:
Die Inschriften der Politischen Bezirke Imst, Landeck und Reutte, ges. u. bearb. v. Werner Köfler und Romedio Schmitz-Esser (Die Deutschen Inschriften 82. Band, Wiener Reihe 7. Band, Teil 1) Wien 2013, Kat. Nr. 11,
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Die Deutschen Inschriften
Herausgegeben von den Akademien der Wissenschaften in
Düsseldorf · Göttingen · Heidelberg · Leipzig · Mainz · München
und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien
82. Band, Wiener Reihe 7. Band
Die Inschriften des Bundeslandes Tirol - Teil 1
Die Inschriften der Politischen Bezirke Imst, Landeck und Reutte

Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Austrian Academy of Sciences Press

 
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Abb. 15–17: „Grussittafel“ (1388?)
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©  ÖAW, Institut für Mittelalterforschung, Arbeitsgruppe Inschriften (Fotograf: Gerhard Watzek)