Wessely, Karl (Carl) (1860–1931), Altphilologe und Papyrologe

Wessely Karl (Carl), Altphilologe und Papyrologe. Geb. Wien, 27. 6. 1860; gest. Mannersdorf am Leithagebirge (NÖ), 21. 11. 1931 (begraben: Wien); röm.-kath. Sohn des Ing. Anton W., der maßgebl. am Bau der Staatsbahnen in Bosnien beteiligt war, und der Karoline W., geb. Morawetz; verheiratet mit der Lehrerin Maria W., geb. Kamper (geb. 11. 7. 1865; gest. 26. 7. 1918). – W. besuchte 1870–78 das Theresianum und lernte bereits als Schüler oriental. Sprachen. Ab 1878 stud. er klass. Philol. an der Univ. Wien, wo →Theodor Gomperz, →Otto Hirschfeld und v. a. →Wilhelm v. Hartel zu seinen Lehrern zählten. Viktor Gardthausens „Griechische Paläographie“ (1879) führte W. bald zur Beschäftigung mit diesem Fachgebiet, doch anders als Gardthausen, der in Papyri aus Leiden und Paris griech. Stenographie vermutete, identifizierte W. die Texte als Kursivschriften. 1885 prom. er mit den „Prolegomena ad papyrorum Graecorum novam collectionem edendam“ (gedruckt 1883). Das selbst gewählte Thema (anstatt der aufgetragenen Kollationierung der Theognis-Hs.) sowie W.s Korrekturen von Hartels Transkriptionen scheinen jedoch zur Distanzierung zwischen beiden geführt zu haben. Bis 1886 unterrichtete W. als Supplent, dann als fest angestellter Prof. am Franz Joseph-Staatsgymn. in Wien. Daneben arbeitete er unbezahlt an den sensationellen Papyrusfunden, die Theodor Graf 1879–81 auf Anraten →Joseph v. Karabačeks in Ägypten gekauft hatte. 1883 erwarb Erzhg. →Rainer Ferdinand die zehntausende Papyri umfassende Smlg., zu der W. ungehinderten Zugang erhielt. Auf Stud.reisen machte er sich 1883–88 auch mit Smlgg. in Paris, London, Berlin und Leipzig vertraut. W. trug entscheidend zur systemat. Aufnahme der Papyri Erzhg. Rainer bei, die Texte in mehreren antiken Sprachen vom 15. Jh. v. Chr. bis zum 15. Jh. n. Chr. umfassten. Sein handschriftl. Inventar von 22.000 griech. Papyri stellt die bis heute verlässlichste und oft einzige Quelle zu Provenienz und Erwerbungsjahr dar. Er war auch maßgebl. an der ersten großen Ausst. der Papyri und deren Kat. „Papyrus Erzherzog Rainer. Führer durch die Ausstellung“ (1894) beteiligt. Nach der Eingliederung der Smlg. in die Hofbibl. 1899 wurde W. in den Dienst der Bibl. übernommen. 1904 zum Kustos der Papyrussmlg. ernannt, ließ er sich als Lehrer pensionieren. W. ed. wichtige literar. Papyri wie Xenophons „Hellenika“, Fragmente eines Hesiod-Kodex oder das singuläre Fragment eines Chorlieds von Euripides’ „Orestes“ mit Musiknotationen. Später folgten viele Ed. griech. und kopt. Texte theol. Inhalts. Noch bedeutender sind seine Verdienste für die dokumentar. Papyrol.: Die Beschäftigung mit den kursiven griech. Alltagsschriften vom 3. Jh. v. Chr. bis zum 8. Jh. n. Chr. war eine Pionierleistung. Ohne Hilfsliteratur transkribierte er als einer der Ersten hunderte kursive Schriftstücke und trug damit maßgebl. zur Paläographie und Kenntnis der Papyri generell bei. Auch wenn später manche Lesungen und Interpretationen revidiert wurden, bleiben W.s Fähigkeiten im Entziffern der oft fragmentar. oder durch zahlreiche Abkürzungen schwer zugängl. Texte bemerkenswert. Sein Augenmerk galt dabei auch Fragmenten: Die Ed. von über 1.300 „Griechischen Papyrusurkunden kleineren Formats“ – Quittungen, Zahlungsanweisungen und ähnl. Texte – half das Wirtschaftsleben und die Fiskalordnung des byzantin. und früharab. Ägypten zu erhellen. Für die Kenntnis der stark stilisierten Schrift latein. Papyri gab W. ebenfalls wichtige Impulse. Sein breit gefächertes Œuvre von etwa 4.000 ed. Papyri und über 300 wiss. Publ. reicht von Stud. zu Topographie, zu mag. Texten und Volksfrömmigkeit bis hin zu linguist. Beobachtungen. 1895 begründete er mit dem ersten Bd. des „Corpus papyrorum Raineri“ die bis heute erscheinende R. systemat. Corpus-Ed. der Papyrussmlg. Ferner wirkte er intensiv an den „Mittheilungen aus der Sammlung Papyrus Erzherzog Rainer“ (Bd. 1–6, 1887–97) mit. Als beide Reihen in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, gründete er die „Studien zur Palaeographie und Papyruskunde“ (1901–24), die er aus privaten Mitteln unterstützte. 17 der erschienenen 23 Bde. verf. W. selbst, für alle schrieb er eigenhändig die Druckvorlagen. Zudem hielt er populärwiss. Vorträge und wirkte als Organisator der kath. Volksbildung. W.s akadem. Karriere verlief hingegen mäßig erfolgreich: Als er sich 1890 unter Vorlage von fast 70 Publ. um die Habil. für klass. Philol. an der Univ. Wien bewarb, wurde er von Hartel zurückgewiesen, weil die Papyruskde. keine reguläre Philol. sei. Erst 1918 konnte er sich habil.; 1922 trat er i. d. R. Trotz mehrfacher Ehrungen (1893 k. M. der k. Akad. der Wiss. in Wien, Mitgl. der Accad. delle scienze dellʼIstituto di Bologna, Reg.Rat, 1908 Ritterkreuz des Franz Joseph-Ordens, 1918 Orden der Eisernen Krone III. Kl.) vermisste W. die Anerkennung seitens der Fachwelt und zog sich zunehmend zurück. Er besaß wertvolle mineralog. und botan. Smlgg. Seine ca. 9.000 Stück umfassende private Smlg. von Papyri ging an →Theodor Hopfner, der sie der Univ. Prag verkaufte.

Weitere W. (s. auch Hopfner): Der Wr. Papyrus Nr. 26 und die Ueberreste griech. Tachygraphie in den Papyri von Wien, Paris und Leiden, in: Wr. Stud. 3, 1881; Griech. Zauberpapyrus von Paris und London, in: Denkschriften Wien, phil.-hist. Kl. 36, 1888; Die Pariser Papyri des Fundes von El-Faijûm, ebd. 37, 1889; Karanis und Soknopaiu Nesos, ebd. 47, 1902; Die Stadt Arsinoe (Krokodilopolis) in griech. Zeit, in: Sbb. Wien, phil.-hist. Kl. 145, 1903; Topographie des Faijum (Arsinoites Nomus) in griech. Zeit, in: Denkschriften Wien, phil.-hist. Kl. 50, 1904. – Ed.: Corpus Papyrorum Raineri. Griech. Texte 1. Rechtsurkunden, 1895.
L.: R. Egger, in: Almanach Wien 82, 1932, S. 233ff.; H. Gerstinger, in: Aegyptus 12, 1932, S. 250ff.; Th. Hopfner, in: Biograph. Jb. für die Altertumskde., ed. C. Bursian, 59, 1933, S. 297ff. (m. W.); H. Loebenstein, in: FS zum 100-jährigen Bestehen der Papyrussmlg. der Österr. Nationalbibl., 1983, S. 4ff.; H. Harrauer, in: Hermae, ed. M. Capasso, 2007, S. 71ff. (m. B.); UA, Wien; Pfarre Mannersdorf am Leithagebirge, NÖ.
(B. Palme)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 70, 2019), S. 157f.
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