Zschetzsche, Anton Friedrich (1856–1922), Bautechniker

Zschetzsche Anton Friedrich, Bautechniker. Geb. Groß Seelowitz, Mähren (Židlochovice, CZ), 15. 8. 1856; gest. Wien, 31. 8. 1922 (Suizid; beigesetzt: Mödling, NÖ); röm.-kath. Sohn des Kupferschmieds Carl Z. und seiner Frau Wilhelmine, geb. Kodal; ab 1897 mit Erdmuthe Euphrosine Z., geb. Boveri, verheiratet. – Z. besuchte die Kommunaloberrealschule in Brünn und stud. an der dortigen TH 1875–80 Bauing.wesen. Anschließend wirkte er als Ass. an der von →Johann Emanuel Brik geleiteten Lehrkanzel für Brückenbau und Baumechanik der TH Brünn bis Ende 1882. 1882–87 sammelte er in der Erzhg. Friedrichschen Kameraldion. in Teschen Erfahrungen im Entwurf und in der Ausführung von Bauwerken, insbes. von Brücken mit beträchtl. Spannweite. 1888 erfolgte sein Eintritt in die Schlicksche Maschinenfabrik in Budapest als Leiter des Brückenbaubüros und ein Jahr später der Wechsel zur Brückenbauanstalt Gustavsburg – dem späteren MAN-Werk Gustavsburg –, wo Z. unter Anton v. Rieppel beim Bau der Müngstener Brücke und unter Max Carstanjen beim Entwurf der Wuppertaler Schwebebahn mitwirkte. Aus seiner Gustavsburger Schaffensperiode ragt eine Aufsatz-Ser. zur Brückentheorie (1893) heraus, die mit dazu beitrug, dass Z. 1895 den zweiten Platz in der Berufungsliste der Nachfolge von Wilhelm Fränkel auf die Professur für Brückenbau und Statik der Baukonstruktionen der TH Dresden errang. 1896 trat er als beratender Ing. in die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN) in Nürnberg ein und avancierte zwei Jahre später zum Obering. in der Dortmunder Stahlbaufa. August Klönne. Sein Entré bestand in dem 1898 patentierten Fördergerüst für Bergwerke aus Stahl, das Z. als Dreigelenksystem ausbildete, einem stat. bestimmten System, mit dem Zwangskräfte aus der durch den Untertagebau verursachten Bergsenkung vermieden wurden und das als „Strebengerüst der Bauart Zschetzsche“ in die Technikgeschichte einging. Schon 1900 kehrte er in die Monarchie zurück, um in Mödling bis 1902 das Techn. Zentralbüro der 1861 von →Rudolph Philipp Waagner gegr. AG R. Ph. Waagner zu leiten. In dieser Zeit publ. Z. in der „Zeitschrift des österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines“ eine Aufsatz-Ser. über das Stahltragwerk der Berliner Reichstagskuppel, die eine Kontroverse mit dem Entwurfsverf., Hermann Zimmermann, auslöste und sich 1901 und 1902 zu einem wiss. Meinungsstreit über die Berechnung von Raumfachwerken ausweitete, an dem sich u. a. Otto Mohr und Heinrich Müller-Breslau beteiligten. 1902 folgte Z. Rudolf F. Mayer auf die verwaiste Lehrkanzel für Baumechanik der TH Wien. In seinen Lehrveranstaltungen pflegte er einen konstruktionsorientierten Stil der Baustatik, dem er auch in seinem 1912 publ. „Handbuch der Baustatik“ Ausdruck verlieh. Dort behandelte er die Baustatik nicht nur auf Grundlage der Erkenntnisse von James Clerk Maxwell, Luigi Federico Menabrea, Enrico Betti, Alberto Castigliano, Mohr und Müller-Breslau, sondern widmete sich ausführl. auch der konstruktiven Durchbildung der Tragwerke, z. B. solchen aus den Bereichen der Kuppel- und Kriegsbrückensysteme. Zusammen mit dem Brückenbauprof. →Friedrich Hartmann begutachtete Z. 1917 die Diss. von Friedrich Bleich über den Viermomentensatz, die bei der Herausbildung des Deformationsverfahrens der Baustatik eine wichtige Rolle spielte. Der Zusammenbruch der Donaumonarchie, die Not der Nachkriegsjahre und private Probleme verbitterten Z. derart, dass er sich im Gebäude der TH Wien das Leben nahm. So blieb sein auf vier Bde. angelegtes Hdb. der Baustatik unvollendet. Die Lehrkanzel von Z. übernahm Min.rat Dipl.-Ing. Josef Cecerle prov., der schließl. 1925 von Ernst Melan abgelöst wurde und sie erfolgreich zur Lehrkanzel für Baustatik weiterentwickelte.

Weitere W.: Theorie lastverteilender Querverbände, in: ZÖIAV 45, 1893; Berechnung von Mauerankern, in: Zentralbl. der Bauverwaltung 16, 1896; Berechnung von Bogenbrücken bei Wirkung seitl. Kräfte, in: Z. für Architektur und Ing.wesen 43, 1897; Die Kuppel des Reichstagshauses in Berlin, in: ZÖIAV 53, 1901; Die graph. Statik, 1903 (Ms.); Zur Frage: Formänderungsarbeit bei Torsion, in: Österr. WS für den öff. Baudienst 11, 1905.
L.: WZ, 1. 9. 1922; E. Melan, in: Inauguration TH Wien, 1927, S. 69ff. (m. B.); ZÖIAV 75, 1923, S. 80; 150 Jahre TH in Wien 1815–1965, ed. H. Sequenz, 2, 1965, S. 253ff.; K.-E. Kurrer, The History of the Theory of Structures, 2018, S. 973; Pfarre Mödling-St. Othmar, NÖ; Pfarre Židlochovice, CZ; Mitt. Albert Zschetzsche, Linz, OÖ.
(K.-E. Kurrer)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 73, 2022), S. 582f.
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