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Die Inschriften des Bundeslandes Tirol
Politischer Bezirk Landeck
230 |
Ischgl, Pfk. Hl. Nikolaus |
um 1600 |
Armreliquiar des Hl. Stephanus samt Titulus, Silber, in Verwahrung. Das Reliquiar ist in Form eines ausgestreckten bekleideten linken Arms in Segensgestus gearbeitet; der Ärmelsaum ist mit roten und blauen Glasflüssen verziert, die von einer älteren Fassung der Reliquie stammen könnten1). Am Boden des Armreliquiars befinden sich zwei nur undeutlich erkennbare Punzen, aus denen aber die Herkunft des Stückes aus Aachen hervorgeht2). An der Schauseite ist ein kleines rundes Glas in das Reliquiar eingesetzt, durch das die Partikel vom Armknochen des Heiligen sichtbar sind. Das Glas umschließt ein silberner Ring mit eingravierter und geschwärzter, nach innen orientierter Umschrift, die (bei aufgestelltem Reliquiar) im Scheitel des Rings einsetzt.
H. 43 cm (gesamtes Reliquiar), Bu. 0,3–0,4 cm. – Kapitalis.
Textedition
· BRACHIVMa) · S(ANCTI) · STEPHANIb) · PROTOc) · MARTGRISd)
Anmerkungen
Kommentar
1956 wurde das Reliquiar geöffnet. Man fand die rechte Speiche eines etwa 25-jährigen Mannes vor, die – offenbar durch die jahrhundertelange Verehrung durch Berührung – „gleichsam poliert“ aussah. Die Umhüllung des Knochens stammte aus der Zeit um 1500. Eine Datierung mittels C-14-Untersuchung wurde jedoch aufgrund der Schäden, die damit an der Reliquie entstanden wären, nicht vorgenommen3). Die Untersuchung durch Prof. Sauser vom anatomischen Institut der Universität Innsbruck konnte so nur feststellen, dass der Arm durchaus das entsprechende Alter aufweisen könnte, um Teil des Skeletts des Heiligen Stephanus gewesen zu sein4).
Die in diesem Armreliquiar verwahrte Partikel ist von großer Bedeutung – gehört Stephanus doch zu den populärsten Heiligen überhaupt – und es erscheint bemerkenswert, dass sie gerade in Ischgl aufbewahrt wird. Dies erklärt sich aus der abenteuerlichen Geschichte der Reliquie: Sie war wahrscheinlich als Geschenk Papst Leos III. in den Aachner Heiltumsschatz Karls des Großen gelangt und durch Kaiser Lothar I. 852 zusammen mit einer stattlichen Anzahl weiterer Reliquien dem karolingischen Hauskloster Prüm in der Eifel übergeben worden5). Als man in der ehrwürdigen Abtei Ende des 18. Jahrhunderts fürchtete, die Wirren der Revolution könnten durch das Einrücken französischer Truppen ins Rheinland auch zu einer Verwüstung des Klosters führen, schenkte man die wertvolle Reliquie am 24. September 1794 dem Händler Anton Moritz aus Ischgl. Die Schenkung erfolgte unter der Bedingung, dass er sie einer „überrheinischen Kirche“ übergebe. So vermachte Anton Moritz die wertvolle Reliquie seinerseits der Pfarrkirche seiner Heimatgemeinde Ischgl. Seit 1803 darf sie dort nach Beschluss des Generalvikariates Chur öffentlich verehrt werden6). Auch heute noch wird das Reliquiar einmal im Jahr, am Stefanitag (26. Dezember), zur Verehrung ausgestellt und kann nur an diesem Tag besichtigt werden. Hochenegg wollte in einer Notiz der Chronik der Abtei Prüm einen Hinweis auf den Stifter des Reliquiars sehen: Danach soll der im Mai 1599 verstorbene Prümer Administrator Johann von Schönenberg wesentlich zum Schmuck des Gotteshauses beigetragen haben; da auch das Reliquiar aus dieser Zeit stammen dürfte, könne es sich bei ihm um den mutmaßlichen Stifter handeln7). Auf dieser Quellenbasis muss eine solche Zuschreibung jedoch kaum mehr als eine Spekulation bleiben. Schober datiert die Fassung der Reliquie überhaupt deutlich früher auf „kurz vor oder nach 1500“8).
Bemerkenswert ist der wenig beachtete Umstand, dass das Reliquiar einen linken Arm darstellt. Normalerweise wird stets der rechte, segnende Arm in Armreliquiaren umgesetzt. Dies legt – wenn man die Einzigartigkeit des Ischgler Reliquiars hinterfragen möchte – die Vermutung nahe, dass es sich hier vielleicht nur um eines von ursprünglich zwei paarweise gearbeiteten Armreliquiaren handelt, von denen nur das Reliquiar mit der Darstellung der linken Hand erhalten ist und nach Ischgl gelangte. Die Inschrift ist in einer sauberen Kapitalis, die sich durch vergrößerte Buchstaben an den Wortanfängen auszeichnet, ausgeführt; die Buchstaben der Schrift sind teilweise konturiert ausgeführt, die dadurch entstehenden Freiräume zusätzlich durch Schraffuren ausgefüllt. Dass die Schrift nur mit geringer Sorgfalt ausgeführt worden sei, wie mitunter behauptet wurde, lässt sich nicht halten, wenn auch die Verschreibung des N im vom Betrachter aus auf dem Kopf stehenden STEPHANI auf einen Flüchtigkeitsfehler des Graveurs zurückzuführen sein dürfte. Dagegen war der Ausführende sichtlich des Lateinischen unkundig, worauf die fälschliche Trennung des Wortes PROTOMARTYRIS und die Fehllesung des Y (vielleicht nach einer undeutlichen handschriftlichen Vorlage) zu G hindeuten.
Literatur
Werner Köfler und Romedio Schmitz-Esser
Die Deutschen Inschriften
Herausgegeben von den Akademien der Wissenschaften in
Düsseldorf · Göttingen · Heidelberg · Leipzig · Mainz · München
und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien
82. Band, Wiener Reihe 7. Band
Die Inschriften des Bundeslandes Tirol - Teil 1
Die Inschriften der Politischen Bezirke Imst, Landeck und Reutte
Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Austrian Academy of Sciences Press
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Schlagworte
Die Inschriften des Bundeslandes Tirol Politischer Bezirk Landeck Ischgl, Pfk. Hl. Nikolaus • Armreliquiar • Titulus • Silber • Kapitalis •
Hochenegg, Hans •
Karl der Große •
Leo III. •
Lothar I. •
Moritz, Anton •
Pippin •
Sauser, Gustav •
Schober, Richard •
Schönenberg, Johann •
Aachen •
Brixen, Diözese •
Chur, Generalvikariat •
Ischgl •
Prüm, Benediktinerkloster •
Trient, Diözese
Abbildungen
Abb. 150: Armreliquiar (um 1600)
Abb. 151: Detail
©
ÖAW, Institut für Mittelalterforschung, Arbeitsgruppe Inschriften (Fotograf: Gerhard Watzek)
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Arm des Hl. Erzmärtyrers Stephanus.